Versucht das mal vom Blatt zu singen!

 ¡Hola a todos!

Inzwischen bin ich schon drei Monate, drei Tage und drei Stunden in Bolivien! (Wobei sich die Stundenanzahl und Tagesanzahl im Laufe des Schreibens noch ändern wird?)

Es ist echt unglaublich, wie die Zeit vergeht. Ich fühle mich hier mittlerweile fast wie in einem zweiten Zuhause. Mit den vielen Internatsmädchen und -jungen verstehe ich mich sehr gut (im Moment kenne ich vielleicht 50 Namen von 100) und sobald ich mich vor unsere Eingangstür setze, bildet sich innerhalb kürzester Zeit eine Traube aus Kindern um mich. Egal, ob wir meine mitgebrachten Fotos anschauen, häkeln, UNO bis zum Umfallen spielen, Volleyball oder Tischtennis spielen, uns versuchen aus dem Gordischen Knoten zu entwirren, Englisch üben (Was heißt „I love you?“), singen oder einfach nur reden – wir haben immer unseren Spaß! Da es an dem Schulzentrum „Fe y Alegria“ (Glaube und Freude), zu dem unser Internat gehört, nur eine Englischlehrerin für 20 Klassen gibt, haben viele bei ihren Mathe-, Sport- oder Quechualehrern Englisch, was viel über den Unterricht aussagt. Im Februar, März (Schuljahresbeginn) werden meine Mitfreiwillige und ich schauen, ob wir uns im Englischunterricht behilflich machen können. Da bin ich schon gespannt darauf.

Quechua, die Sprache der indigenen, ländlichen Bevölkerung, ist hier sehr verbreitet und ist übrigens nach Spanisch und Portugiesisch die meistgesprochene Sprache in Lateinamerika. Sie besteht aus vielen aneinandergehängten Wörtern und Suffixen, die nicht dekliniert/konjugiert werden. Die Chicas und Chicos im Internat brennen darauf, sie uns auch beizubringen, aber für uns ist es oft nur ein zungenbrecherischer Kauderwelsch, weswegen wir uns noch auf einzelne Vokabeln beschränken. Wir müssen ja erstmal richtig Spanisch können! Ein Mädchen namens Juana spricht gerne Quechua mit mir, da sie selbst noch am Spanisch-Lernen ist. Es scheint ihr zu genügen, das ich abwechselnd „Ari“ (Ja) oder „Mana“ (Nein) sage. Ein paar Dinge kann ich aber auch aus dem Kontext verstehen – genauso beim Spanischen. Manchmal weiß man schon, was der andere will, ohne es wortwörtlich zu verstehen.

Da aber auch einige Kinder im Kindergarten kaum Spanisch können und am Essenstisch oft Quechua oder ein Spanisch-Quechua-Mix gesprochen wird, würde es sich auf jeden Fall lohnen, sie zu lernen. Nahezu alle, die ich in Inde kenne, beherrschen sie. Wenn ich aber in Cochabamba Einheimische danach frage, verneinen sie oft meine Frage „Hablas Quechua?“ Es ist eben die Sprache der Bauern, hier campesinos, und der Landbevölkerung. Von den circa 100 Kindern im Internat kommen fast alle aus 6- bis 14-köpfigen (!) Familien vom campo, vom Land – durch das Internat bekommen sie die Möglichkeit, ins Colegio, in die weiterführende Schule in der „Provinzhauptstadt“ Independencia zu gehen, die es in den Dörfern nicht gibt.

Viele dieser Mädchen sind Cholitas, tragen also die traditionelle Tracht des Andenhochlands: die pollera, ein weiter, voluminöser Rock, eine Bluse und die manta, ein Schultertuch. Der ahuayo, eine Art Umhängetuch, kommt als Picknickdecke, als Rucksackersatz oder als Babytragetuch zum Einsatz. Und natürlich dürfen die zwei geflochtenen langen schwarzen Zöpfe nicht fehlen. Ich wurde schon so manches Mal für meine kurzen Haare bemitleidet! Hier haben ausnahmslos alle Mädchen lange Haare – bis ins hohe Alter flechten sich die Frauen die typischen zwei Zöpfe, nur, dass diese dann grau sind und längst nicht mehr so dick.

Exkurs: Wo wir schon beim hohen Alter sind (60-70 J.)… Vor kurzem durfte ich an einem Sonntag den Hermanas bei der Caritas-Geldausgabe für arme abuelitos helfen, übersetzt eigentlich „Großväterchen und Großmütterchen“ ; gemeint sind einfach arme alte Menschen. Hermana Juana hat fast ausnahmslos mit allen Quechua gesprochen; circa die Hälfte konnte ihre Unterschrift nicht auf Liste setzen, aber eine Fantasie-Unterschrift tut´s ja genauso.

Dank dem Missionskreis Ayopaya können über 100 Menschen und Familien aus der Provinz Ayopaya monatlich unterstützt werden. In den Familien fehlt oft ein Elternteil oder es gibt körperlich behinderte Mütter oder Väter, die nicht arbeiten können und so kein Geld in die Familie bringen; auch haben einige um die acht Kinder, „denen man allen das Maul stopfen muss“.

Es hat mich schon ein wenig erschüttert, dass diese Unterstützung für jeden individuell aus nur 10-50 Bolivianos besteht, also grob 1,25-6€ pro Monat! Das erschien mir schon sehr wenig und hat mich mal über meine Ausgaben nachdenken lassen. Auch wenn hier fast alles sehr billig ist für unsere Verhältnisse, kann ich trotzdem an einem einzigen Tag in Cochabamba mit Essen im Restaurant, einigen Taxifahrten und anderen kleinen Einkäufen locker 100 Bolivianos (12€) ausgeben. In Independencia ist das schon anders – außer für Wolle, Obst (eine Mango z.B. für 13 Cent) und Guthaben für mein Handy kaufe ich nicht viel.

Ich hab mich nun schon sehr daran gewöhnt, dass alles recht billig ist und bei einigen Sachen, die in Deutschland zu diesem Preis eigentlich geschenkt wären, zögere ich hier, sie zu kaufen, weil es mir so viel vorkommt. Zum Beispiel würde ich hier für ein Kleidungsstück kaum mehr als 1-10€, für DVDs bzw. Raubkopien nie mehr als 1€, für eine 25-Min-Taxifahrt gerade mal 3-4€ ausgeben.

Das Fahren mit dem Taxi – für die Menschen hier eher ein Luxus, für mich ca. ein Achtel des Taxipreises in Deutschland – nutze ich in Cochabamba des öfteren aus, in Deutschland werde ich das sicher vermissen. Gerade wenn es dunkel ist, sollte man hier in einigen Straßen nicht mehr alleine rumlaufen. Ich muss nur aufpassen, dass ich sichere Taxis nehme – unter den hunderten Taxis, die durch die Stadt brausen, gibt es auch private, die nicht von einer offiziellen Linie sind. Letztens habe ich mich so gut mit einem Taxifahrer verstanden, dass ich nun gerne ihn anrufe, wenn ich wo schneller hinmuss.

Jedenfalls leben viele Menschen auf dem Land echt bescheiden. Geld wird nur für das Nötigste ausgegeben. Um den einen Alltag einer bolivianischen Bauernfamilie kennenzulernen, würde ich sehr gerne mal für eine Woche oder länger mit einer Chica aus dem Internat in den Ferien in ihr Zuhause gehen und auf dem Feld mitarbeiten. Ferien bedeuten hier nämlich für alle Kinder Zuhause mithelfen und mitarbeiten! Bei uns in D. dagegen? Kinderbespaßung, -beschäftigung, -verwöhnung…

Zu den Gebühren für das Internat gehören monatlich 25 Pfund Kartoffeln für alle, fast immer aus eigenem Anbau. Deswegen gibt es bei uns wohl zu wirklich jedem Essen Kartoffeln (papas)! Zum Glück gibt es wenigstens verschiedene Sorten Kartoffeln, von denen ich übrigens viele in Deutschland noch gar nie gesehen habe. Zum Beipiel Yuca (Maniok) und die gelbe Kartoffelart Oca – sehr lecker! Auch Llajhua („Jachwa“), eine scharfe Soße aus einer Peperoni-Art namens Locoto, gibt es immer zum Essen dazu. Ich weiß schon jetzt, dass ich die in Deutschland sehr vermissen werde!

Die sog. „Hauptstadt“ der Provinz Ayopaya ist angesichts der unzähligen kleinen Dörfer ringsum recht groß mit ihren 3000-4000 Einwohnern, von denen ungefähr die Hälfte Schüler sind. Trotzdem fühlt es sich für mich an wie in einem Dorf. In Cochabamba (ca 700.000 Einwohner) „erlebe“ ich in vier Tagen so viel wie in drei Wochen in Independencia. Das war am Anfang nicht so leicht für mich, zu sehen, was es in Cochabamba alles für Möglichkeiten gibt – Sprachschule, Gitarrenunterricht, Verabredungen und vor allem alle Arten von Tanzen -, aber letztendlich kommt es darauf gar nicht so an bzw. dafür haben wir ja auch Urlaubstage. In Independencia tauche ich eben in eine ganz andere Art von Leben ein und „erlebe“ andere Dinge, nicht im Sinne von so vielen Aktivitäten, aber von Gesprächen, Wanderungen, einzelnen Momenten… stilleren Dingen.

Was für mich vor drei Monaten noch so neu war, ist nun für mich zum Alltag geworden, wie zum Beispiel der lockere Umgang mit der Zeit, mit Uhrzeiten: Bin ich anfangs zur Firmungsmesse, Hochzeitsmesse und zu dieser und jener Veranstaltung noch pünktlich gekommen (ja gut, ich gebe es zu, ihr kennt mich ja – ein paar Minütchen später kann ich schon mal später dran gewesen sein; hier bin ich aber die Pünktlichkeit in Person, ob ihr`s glaubt oder nicht!), so weiß ich inzwischen um die obligatorische halbe bis ganze Stunde Verspätung mas o menos... Wenn man diese Zeit einfach auf die angesagte Uhrzeit draufrechnet, fangen die Veranstaltungen doch ganz „pünktlich“ an! Während bei uns nahezu auf die Minute genau begonnen wird und man auf keinen Fall zu spät kommen sollte – wie peinlich -, so trudeln hier einfach nach und nach die Leute ein. Entspannt, dass man noch seine Wäsche fertig waschen und aufhängen kann und sich auch auf dem Weg nicht beeilen muss – man wird schon nicht zu spät kommen. Jojo und ich haben aber trotzdem gerne unser Häkelzeug dabei, falls aus der halben/ganzen Stunde doch mehr werden sollte.

Auch Männer und Frauen um die 30/40 Jahre holen die Firmung nach, auf die man hier in zwei Jahren sehr gut vorbereitet wird:

Diese Ruhe und Besonnenheit im Alltag schätze ich sehr, kenne ich das doch von uns Deutschen nicht so. (Wenn ich allerdings über eine halbe Stunde warten muss, bis meine Verabredung am Treffpunkt erscheint, wünsche ich mir schon mal wieder etwas von der deutschen Pünktlichkeit her oder ich nehme mir vor, das nächste Mal noch später zu kommen.)

In Cochabamba: So wie jede Bus- oder Autofahrt aufgrund des vielen Verkehrs, des Fahrtzeugzustandes (Für was braucht man denn bitte den TÜV?), des Straßenzustandes oder des vielen Stop and Go wesentlich länger dauert, als ich es gewohnt bin, so kann man für alles und jeden etwas mehr Zeit einplanen. Bzw. anstatt groß zu planen, schaue ich einfach, was als nächstes ansteht, wenn ich eines erledigt habe. Oft ändert sich spontan noch etwas, wenn ich zum Beispiel jemanden treffe oder kennenlerne oder es plötzlich wie aus heiterem Himmel anfängt zu regnen oder eine Straßensperrung wg. Protesten mich zum Laufen verdonnert. So bleibt man eben flexibel. Die, die mich kennen, wissen, dass ich eher von der gelassenen, geruhsamen Sorte bin, aber sicher kann jeder immer noch gelassener, geduldiger werden – und sei es mit sich selbst.

Entspanntsein und Gelassenheit hängt jedenfalls nicht nur von Wohlstand, Beruf und Gesundheit ab, so viel hab ich schon gelernt. Es ist vielmehr das „im Reinen mit sich selbst und seiner Situation Sein“, was diese Relaxtheit ausmacht.

Um zu den Uhrzeiten zurückzukehren: Wo es zu unserem „Unglück“ aber doch pünktlich zugeht, ist die Zeit für die Nachthunde: um 22:15 werden die vier Schäferhunde rausgelassen und denen will man wirklich lieber nicht begegnen! D.h. für uns: ab ins Zimmer! Für mich ist das meistens ganz in Ordnung, es ist ja nicht so, dass es in Independencia so viel an Abendveranstaltungen gäbe, aber für meine Mitfreiwillige, die aus München kommt, ist das schon eine krasse Umstellung.

Man sollte am besten keine Angst vor Hunden haben, wenn man nach Bolivien kommt (Mama:). Oder man hat eben hinterher keine Angst mehr. Bei den vielen, vielen unterschiedlichsten Straßenhunden würde man sonst nicht mehr aus dem Fürchten herauskommen. Mich hat noch kaum ein Hund angesprungen oder verfolgt; die meisten sind echt harmlos. Die größere Gefahr kann von ihnen ausgehen, wenn man sie streichelt… Wenn wir – wie jeden Sonntagabend – im Dorf auf der Straße Api (dickflüssiges, heißes Getränk aus rotem oder weißem Maispulver und Zimt und Co.) trinken gehen, kommen wie überall gern mal ein paar Hunde vorbei. Johanna, eine große Tierliebhaberin, kann es nicht lassen, sie zu streicheln und hatte vermutlich demzufolge nun schon einige Male Flöhe! Das ist wirklich eine unangenehme Sache, die einem nächtelang den Schlaf rauben kann und ich kann nur von Glück sagen, dass ihnen mein Blut anscheinend nicht zusagt. Die Blutgruppe 0 scheinen sie vorzuziehen…

Beim Api-Trinken mit deutschen Besuchern:

Auch in Cochabamba gibt es Api ?

So, nun wisst ihr wieder etwas mehr über meine drei Monate hier. Es ist nicht so, dass das jetzt schon alles wäre, was für mich nun „Alltag“ bedeutet, aber ich will ja, dass ihr den Bericht zu Ende lest!

Ich wünsche euch allen eine ganz schöne, besinnliche, auf IHN erwartungsvolle Adventszeit mit berührenden Konzerten und gesegnete, fröhliche, weiße (?) Weihnachten, wenn möglich im Kreis eurer Familie!

Noch kurz zum Advent hier: die Adventszeit ist hier nicht so bekannt, stattdessen werden schon Weihnachtslieder wie Jingle Bells und Stille Nacht, Heilige Nacht (!) vorgeführt. Um ein bisschen mehr Adventsstimmung aufzubringen – durch das durchgehend warme Wetter und die andere Umgebung fühle ich mich nicht wie im Advent -, hab ich für unser Internat einen Adventskranz gemacht und mit Jojo einen sehr aufwändigen Adventskalender für Hermana Juana, die vor kurzem Geburtstag hatte. Kennt man beides hier nicht wirklich!

Ich glaube, es wird mich dann ein wenig überraschen, wenn der Heiligabend kommt. Außerdem werde ich wahrscheinlich auch etwas unser schönes Familien-Weihnachtsfest in Wangen vermissen… die Plätzchen dagegen nicht, wenn sie uns (hoffentlich) gelingen. Da es in Independencia für unsere vielen Vorhaben an Zutaten mangelt, werde ich nun für Einkäufe nach Cochabamba fahren.

Das habe ich noch vergessen: Wir hatten im Kindergarten am jetzigen Schuljahresende „Promito“, d.h. die 5-jährigen Kinder wurden in einem sehr großen Aufheben verabschiedet. Dafür haben wir schon seit Wochen im Kindergarten gebastelt. Ob das wirklich für die Kinder bestimmt war, oder eher für die Eltern? Sie wussten oft gar nicht so, was ihnen geschieht, zum Beispiel als sie Walzer tanzen sollten… Demnächst werden wir die Promoción des Colegios erleben (wie der Abiball bei uns).

Alle Schüler haben nun von Anfang Dezember bis Anfang Februar „Sommerferien“, d.h. auch wir haben keine offizielle Arbeit mehr. Wir können uns aber im Internat natürlich immer behilflich machen, werden da aber recht freigelassen. Ich werde viel reisen gehen – als erstes nach Potosi zu meiner Freundin Leonie aus Wangen, die genau wie ich einen Freiwilligendienst macht.

Macht´s gut!

Alma

Hier noch einige Bilder vom Internat und von Independencia:

Sonntag: Markttag

Zum Glück muss ich mich nicht an diese Straße gewöhnen – sie wird gerade asphaltiert
Centro Social